
Foto: Alexander Grey – Unsplash
Wer bin ich, wenn der Körper einmal wegfällt? Und vor allem: Was bin ich eigentlich? Die Frage nach der eigenen Geschlechtsidentität beschäftigt mich seit meiner Jugendzeit. Ich fragte mich oft, ob ich nun wirklich ein Mann bin. Die Antwort darauf ist nicht einfach.
Ich wuchs noch in einer Zeit auf, in der Homosexualität unter Strafe stand. Der sogenannte „175er“ verbot gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Männern. Erst 1994, im Jahr meiner Einschulung, wurde dieser Paragraf gestrichen. Jedoch galt in dieser Zeit der Begriff „Schwuchtel“ noch immer als Schimpfwort. Die Abartigkeit einer anderen sexuellen Orientierung war in den Köpfen der Menschen fest verankert. Auch in meiner Jugend waren gegengeschlechtliche Beziehungen das „Normal“.
Eine ignorante Gesellschaft
So wuchs ich mit dem Gedanken auf, dass mit mir etwas nicht stimmt. Eine schlagkräftige LGBTQIA+-Community und entsprechende Beratungs- und Unterstützungsangebote gab es in dieser Zeit noch nicht – schon gar nicht für „non binary people“ wie mich. Als andere ihre erste Freundin hatten, stellte ich die Dualität der Geschlechter in Frage. Es gibt für mich keinen Unterschied zwischen Frau und Mann – wir sind doch alle Menschen. Wozu sollten wir uns da in ein Konzept bestehend aus „Frau“ und „Mann“ pressen lassen? Warum kann sich nicht jeder kleiden, wie er möchte – unabhängig ob dies nun von der Gesellschaft willkürlich als Damen- oder Herrenbekleidung deklariert wurde? Warum braucht es überhaupt noch länger unterschiedliche Kleidungsstile für die zwei Geschlechter?
Als sich die Jugendlichen in meiner Klasse über den ersten Kuss unterhielten, las ich lieber Magazine wie National Geographic, GEO oder SPIEGEL. Tauschten sie sich über die ersten sexuellen Erfahrungen aus, beschäftigte ich mich stattdessen mit gesellschaftlichen, politischen oder religiös-philosophischen Fragestellungen. Sex gehörte für viele schon in diesen jungen Jahren zu einem erfüllten Leben dazu. Für mich ist Sex jedoch einfach nur die Möglichkeit, sich fortzupflanzen.
Ist Fortpflanzung aber ein erstrebenswertes Ziel? Mit Sicherheit, wenn wir unser Leben ausschließlich aus der irdischen Perspektive betrachten. Für mich jedoch war sehr früh klar, dass es mehr gibt als nur diese Welt.
Ein Bewusstsein für das wahre Selbst schaffen
Diese Erkenntnis erinnert mich an das Konzept der „Leerheit“ im Zen-Buddhismus: Nichts hat eine inhärente, unabhängige Existenz. Alles, was wir als greifbare und unveränderliche Realität wahrnehmen, ist im Kern leer. Dies schließt auch gesellschaftliche Konzepte wie Geschlechterrollen, Karriere und Statussymbole ein. Wenn wir uns von der Vorstellung lösen, dass diese Dinge unser Leben bestimmen müssen, können wir den Blick auf das Wesentliche richten – auf das, was bleibt, wenn wir hinter die Kulissen blicken. Genau das habe ich in meiner Art, achtsam zu leben und bewusst zu fotografieren, gelernt.
Heutzutage scheint der Lebenslauf der Menschen fast austauschbar zu sein: Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder, ein Haus – all das gilt für viele als das Nonplusultra. Doch im Zen geht es darum, jenseits von vorgefertigten Konzepten zu leben, das Leere und Unvollständige anzunehmen und im Hier und Jetzt ein Bewusstsein für das Wesentliche zu entwickeln.
Ich habe immer gespürt, dass mein Weg jenseits dieser irdischen Erwartungen liegt. Dort wo Verbundenheit und Nicht-Zweiheit spürbar werden.
Der Hass war nie weg
Wer aber in diesem „Spiel“ nicht mitmacht, Konzepte in Frage stellt, gilt ganz schnell als Außenseiter – damals wie heute. Die Abneigung gegenüber Menschen mit einer anderen Geschlechtsidentität hat enorm zugenommen, konservatives und in Teilen rechtsextremes Gedankengut ist wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Vielleicht war es aber auch nie ganz verschwunden. Erst im August 2024 gab es in München auf die beiden Treffpunkte der queeren Community, „SUB“ und LeZ“, einen Anschlag. Der BR berichtete damals über diesen Vorfall.
Aber woher rührt der Hass? Ist es die Tatsache, dass sich die meisten Menschen von Homosexualität angewidert fühlen? Oder sind es perverse Fantasien, die die Leute mit Geschlechtslosigkeit und Transfrauen bzw. -männern in Verbindung bringen?
Ich weiß es nicht. In die Köpfe dieser Menschen kann ich nicht schauen. Doch erinnere ich mich gut an eine Zeit, in der ich selbst konservativ geprägt war und mein Weltbild ausschließlich in der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen bestand. Vielleicht war es die Ablehnung meines eigenen Seins, das mich so glauben ließ. Viele, die gegen die LGBTQIA+-Community hetzen, spüren vielleicht auch, dass sie mehr sind als das, was ihnen als „Rolle“ zugedacht wurde – aber lehnen sich selbst, und damit auch die gesamte queere Community, ab.
Leerheit ist die Lösung in der Geschlechterfrage
Das Problem liegt in unserer Wahrnehmung der dualen Welt, in der wir uns befinden. Der Begriff „Leerheit“ mag vielen abstrakt erscheinen, aber er ist der Schlüssel, um das Konzept der Geschlechter zu verstehen. In der Lehre des Zen-Buddhismus bedeutet Leerheit nicht das „Nichts“. Es ist vielmehr der Raum, in dem alles möglich ist und aus dem alles entsteht. Wir als Bewusstsein existieren in einem zeitlosen Zustand, jenseits des Konzepts der Zweigeschlechtlichkeit.
Unser Körper dient uns lediglich als „Hülle“ für unser irdisches Leben. Er ermöglicht es uns, in dieser Welt zu agieren und Erfahrungen zu sammeln, aber letztendlich ist er vergänglich und veränderlich. Unser wahres Sein liegt jenseits des physischen Körpers, unabhängig von Kategorien, die wir dieser Welt auferlegen. Es bleibt das geschlechtslose Bewusstsein, das weder Anfang noch Ende hat.
Auch ich habe mich zu sehr mit dieser zeitlich begrenzten Welt verstrickt. Mein wahres Selbst habe ich all die Jahre – durch Erfahrungen in Erziehung, Schule und Gesellschaft – verleugnet. Ich habe mich an diese Welt angepasst. Und weil ich das tat, war mir alles andere suspekt. Tief in mir drinnen hatte ich immer noch diese Gewissheit, dass da mehr ist als nur das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können.
Das Göttliche währt ewig und ist geschlechtslos
Erst durch das Erkennen von Gegensätzen verloren wir die ursprüngliche Einheit und begannen, die Trennung in allem, die Zweiheit, wahrzunehmen. In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird dies als der Sündenfall beschrieben – der Moment, in dem Adam und Eva von der Frucht des Baums der Erkenntnis aßen und damit ihre eigene Nacktheit und das Geschlecht des anderen erkannten. Dieses Wissen trennte sie von der Einheit. Sie schämten sich für ihre Nacktheit und ihr So-Sein.
Zwar lebten wir schon immer in einer Welt der Gegensätze, doch wussten wir einst nicht von ihnen – wir waren einfach in Harmonie mit allem um uns herum. Wenn wir dem Konzept folgen, dass uns das Göttliche nach seinem Bild erschaffen hat, dann sind wir im tiefsten Inneren auch das Göttliche selbst. Im Zen-Buddhismus bedeutet das, dass wir jenseits aller menschlichen Konzepte wie Geschlecht oder Nationalität existieren – als das, was man „wahres Selbst“ nennt, welches frei von diesen künstlichen Zuschreibungen ist.
Führen wir diesen Gedanken weiter, dann sehen wir, dass auch Konzepte wie Nationalitäten oder Kriege und Auseinandersetzungen sinnlos sind. Denn im Kern sind wir alle eins – wir alle teilen diese Leerheit und das Potenzial, das darin liegt. Als Bewusstsein sind wir überirdisch. Wir existieren über diese körperlichen Begrenzungen hinaus. Das, was in uns ewig ist, kann von niemandem zerstört werden.
Doch wie alles, was wir beschreiben, ist auch diese Sichtweise ein Konstrukt des Verstands. Auch die Leerheit ist letztlich nur ein Konzept, das uns hilft, das Unaussprechliche zu erfassen. Aber gerade das kann ein hilfreicher Schritt sein, um über die spirituelle Dimension unserer Existenz nachzudenken und (wieder) in Einklang mit uns selbst, unserer Umwelt und unseren Mitmenschen zu kommen.
Selbstbestimmungsgesetz als Rettungsanker
Das Wissen, mit dem Göttlichen und allen anderen bewussten Wesen verbunden zu sein, hat mir geholfen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Ich lernte hinter die Oberflächlichkeit zu blicken. Die Fassade des Sichtbaren bröckelt nun immer mehr. Doch werden wir von Geburt an weiter in zwei Geschlechter hineingepresst, weil wir bestimmte äußerliche Merkmale aufweisen.
Mit dem in Deutschland endlich verabschiedeten Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) ist es seit dem 01. November 2024 möglich, frei über sein Geschlecht zu entscheiden. Für mich war dies die Rettung. Endlich kann ich meinen Geschlechtseintrag streichen lassen, und lebe damit jenseits dieser aufgezwängten Rolle. Der Erfahrung hier auf Erden als geschlechtsloses Bewusstsein, steht jedoch dem Denken in Geschlechterstereotypien und was einen Mann ausmacht, entgegen. Das wird mich auch noch einige Zeit begleiten. Mich so zu zeigen, wie ich wirklich bin, erzeugt eine unglaubliche Angst vor Ablehnung in mir.
Wie so alles im Leben, braucht auch dies Zeit. Dieser Text ist für mich der Anfang einer Reise zu einem glücklichen, selbstbestimmten Leben, ohne auf gesellschaftliche Konventionen achten zu müssen.
Welche gesellschaftlichen Konzepte hast du für dich als feststehend akzeptiert? Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um diese Illusionen in Frage zu stellen. Die fotografische Auseinandersetzung mit dem Illusionären der Welt, bietet Raum dafür. Ein Raum, der uns zu einer tieferen Verbundenheit mit der Natur, unseren Mitmenschen, dem Universum und letztlich auch zu uns selbst führt.