War mein Burnout in Wirklichkeit ein Boreout?

Foto: Verne Ho – Unsplash

Zu viel Arbeit? Oder doch ein Boreout durch Langeweile im Job? In meiner bisherigen beruflichen Laufbahn lösten sich Unter- und Überforderung scheinbar fortlaufend ab. Dass ich in irgendeiner Form neurodivergent bin, war mir schon immer irgendwie klar. Aber soll nun eine möglicherweise vorliegende Hochbegabung alles erklären? In diesem Artikel gehe ich diesem Phänomen auf den Grund.

Boreout durch Unterforderung?

Ich erinnere mich noch gut an die Worte meiner Lehrerin an der Sozialpflege-Schule, die mir deutlich machte, dass ich es mir gut überlegen solle, ob ich wirklich in der Pflege arbeiten möchte. Scheinbar erkannte sie zu diesem Zeitpunkt bereits etwas, wofür ich noch einige Jahre mehr brauchen sollte.

Richtig war zu diesem Zeitpunkt, dass ich mich überfordert gefühlt habe. Überfordert damit, die richtigen Worte und den richtigen Umgang mit den mir anvertrauten Bewohner:innen zu finden. Und gleichzeitig ahnte ich – zumindest unterbewusst – schon damals, dass ich zu mehr fähig bin. Dass diese Ausbildung eben noch lange nicht das Ende der Fahnenstange ist.

Mit minimalen Kompetenzen ausgestattet, um jeden Tag das Gleiche zu tun, ging ich also nach meiner ersten Ausbildung zum Pflegefachhelfer in meinen ersten Job. Ich tat meine Arbeit – und das sogar sehr gut. Nach nur wenigen Wochen gewann ich bereits das Vertrauen der Betreuten, die sich mir mit ihren intimsten Wünschen und Bedürfnissen anvertrauten. Doch bereits nach gut einem Jahr führte mich das in einen (beginnenden) Erschöpfungszustand. Psychosomatische Symptome häuften sich.

Denn zum einen verrichtete ich zwar eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit, welche mich aber geistig zu wenig herausforderte. Die Arbeit beschränkte sich nun mal jeden Tag auf die morgendliche oder abendliche Pflege der Bewohner:innen, die soziale Betreuung, die Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme. Der Pflegeberuf ist eine Arbeit, der wenig Spielraum lässt für Abwechslung. Gerne wird dann behauptet, dass doch gerade dort jeder Tag ein bisschen anders und nichts wirklich planbar sei. Diese Aussage geht an der Realität aber völlig vorbei: Gerade ältere Menschen sehnen sich nach einem routinierten, gleichbleibenden Ablauf. Sie wollen zur selben Uhrzeit aufstehen oder wünschen in dieser und jener Reihenfolge gepflegt zu werden. Genau das gibt diesen Menschen die Sicherheit, die sie benötigen.

Stress, Druck und Überforderung

Dann kam der Stress von oben dazu: Alles musste sehr schnell gehen. Aktivierende Pflege? Fehlanzeige! Zeit zum Essen anreichen gab es nicht wirklich. Vielleicht war ich in einem System, das auf Ausbeutung der Mitarbeiter:innen und maximalen Profitmaximierung einiger weniger auf Kosten des schwächsten Glieds in der Kette, den Pflegebedürftigen, ausgerichtet ist, auch schon früh moralisch überfordert und desillusioniert.

Wahrscheinlich war aber mit Sicherheit auch meine emotionale Reizfilterschwäche mitverantwortlich – alles prasselte auf mich ein. Dann gab es den in einem sozialen Beruf und im Gesundheits- und Pflegewesen allgemein fehlplatzierten Druck auch von Kolleg:innen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Aussage eines Kollegen an meiner ersten Arbeitsstelle: Als ich ihn um Hilfe bei einem Bewohner bat, gab er mir lapidar zur Antwort, dass er schon einmal die ganze Station mit 33 Bewohner:innen alleine versorgt habe und dass ich das auch können müsse. Trotzdem half er mir widerwillig – immerhin etwas.

Genauso wie ein Burnout kann jedoch auch ein Boreout zur Erschöpfung führen. Die Jahre, die ich in einem völlig unterfordernden Helferjob verbrachte, haben mich emotional, aber auch körperlich erschöpft. Meine hohe Leistungsfähigkeit konnte ich so nie wirklich zur Geltung bringen. Anfangs war ich noch hoch motiviert, wollte etwas verändern, etwas sinnvolles tun. Durch die repetitiven Tätigkeiten in der Altenpflege gab es für mich aber keine Weiterentwicklung mehr. Irgendwann führte das zur Demotivation, kognitiver Dissonanz („Ich könnte ja mehr, aber ich darf nicht“), Frustration und schließlich zur vollständigen Ermüdung.

Selbst nach meiner Ausbildung zum Altenpfleger und der daraufhin folgenden Tätigkeit als Fachkraft, änderte sich daran wenig. Zur Erschöpfung und Unterforderung gesellte sich nun noch mit der höheren Verantwortung neuer Druck dazu. Durch das zu lange Verweilen in einem unterfordernden Beruf, wurde nun aus dem einstigen Boreout ein Burnout: Ich hatte keine mentale Kapazität mehr, um dem entgegenzuwirken. Tatsächlich war ich zu diesem Zeitpunkt überfordert mit allem – nicht, weil ich es nicht konnte, sondern weil meine Energie zuvor jahrelang verschwendet wurde.

Hochbegabung als Ursache für den Boreout

Zum ersten Mal aufmerksam auf meine mögliche Hochbegabung wurde ich durch den Podcast von Tanja Nepute. Etwas später beschäftigte ich mich mit diesem Thema noch genauer und stoß auf das Buch von Jürgen vom Scheidt (Das Drama der Hochbegabten – Zwischen Genie und Leistungsverweigerung). Darin führt er in einem Selbsttest 90 Merkmale auf, die auf eine Hochbegabung hinweisen könnten. Mit einem Ergebnis von 62 Punkten erreichte ich ein überdurchschnittliches Ergebnis. Vom Scheidt schreibt dazu in seinem Buch: „Sie gehören vermutlich zur winzigen Gruppe der Höchstbegabten mit einem IQ über 140“.

Motiviert von diesem Ergebnis nahm ich an einem Mensa-Test teil. Zwar erreichte ich nicht die „magischen 130“, doch attestiert mir der Test mit einem IQ von 110 mit dem Prozentrang 75 eine überdurchschnittliche Intelligenz. Und im Bereich der Merkfähigkeit dann doch wieder eine Hochbegabung mit einem Wert von 132. Auch der verbale Teil weist ein Vertrauensintervall bis zu einem Wert von 133 auf.

Typischer Testversager?

Dem in diesem meiner tatsächlichen Intelligenz „schlechten“ Abschneiden, liegen m. E. mehrere Ursache zugrunde. Gerade im Bereich der Sprachkompetenz stellte ich während des Tests Antworten in Frage, da ich bei manchen davon zwei als richtig erkannte. Nach dem Ausschlussprinzip entschied ich mich für die naheliegendste Lösung – ob ich damit richtig lag, weiß ich nicht. Einblick in die Ergebnisse bekam ich nicht, lediglich eine Auswertung. Dieses Problem kenne ich bereits aus mindestens einer anderen Situation: Für die IHK-Prüfung im Rahmen meiner Umschulung zum Kaufmann für Marketingkommunikation musste ich regelrecht lernen, „dumm“ zu denken. Eine zu große Abweichung der von der IHK vorgegebenen Lösung im nicht gebundenen Teil ist schlicht nicht erwünscht. „Querdenken“, auch wenn dieser Begriff seit der Corona-Pandemie einen faden Beigeschmack hinterlässt, ist im hiesigen Schulsystem nicht vorgesehen. Auch der Mensa-Test und andere wissenschaftlich fundierte IQ-Tests gliedern sich dort nahtlos ein.

Ein anderes Problem zeigte sich im praktischen Rechnen mit Textaufgaben. Aufgrund von schlechten Erfahrungen in der weiterführenden Schule im Lernen, Verstehen und Anwenden mathematischer Regeln, entwickelte ich bereits beim Anblick der Aufgaben eine „Null-Bock-Haltung“. Dass sich dies auf meine geistige Leistungsfähigkeit ausgewirkt hat, davon bin ich überzeugt.

Dass es zu diesem „Mathematik-Trauma“ überhaupt kommen konnte, liegt aber auch darin begründet, dass ich vermutlich nie wirklich Lernen gelernt habe. Vom Scheidt listet als Zeichen einer möglichen Hochbegabung in seinem oben erwähnten Buch auch folgendes auf:

Sehr gute und leicht erworbene Schulnoten am Beginn oder während der ganzen Grundschulzeit, (die vielleicht immer schlechter wurden)

Boreout schon in der Grundschule

Bereits in der ersten Klasse las ich unbekannte Texte selbständig und sinnerfassend, wie mir das Jahreszeugnis attestiert. Rechnen gelang mir mühelos und „ohne Anschauungsmaterial“. Dass ich mich an diese Zeit nicht mehr wirklich erinnere, deutet auf eine deutliche Unterforderung hin. Ich verstand eben schon alles wie selbstverständlich ohne hierfür großartig lernen zu müssen. Das Gehirn speichert nur das ab, was es als „würdig“ empfindet. „Einfacher“ Lernstoff oder triviale Informationen werden vergessen; eine zu geringe geistige Herausforderung als „nutzlos“ empfunden.

In der Folge liegt Potential brach, das eigentlich genutzt werden möchte. So zeigte sich nicht nur bereits in der zweiten Klasse dezent eine beginnende Leistungsverweigerung: „Noch immer vertraute er seiner Leistungsfähigkeit sehr wenig; nach anfänglicher Unsicherheit war er aber stets in der Lage, geforderte Aufgaben zu erledigen, wenn diese mit Nachdruck von ihm verlangt wurden“.

Vielmehr führte die ständige Unterforderung auch zu einer inneren Haltung, die mich selbst klein halten ließ. Ich habe mich an eine Umgebung angepasst, die auf Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten und anderen Auffälligkeiten wie ADHS ausgerichtet ist. Ich habe gelernt, nachzufragen, weil das in diesem Umfeld offensichtlich erwartet wurde. Unbewusst habe ich mich zurückgenommen, um nicht aufzufallen. Meine Gehirnkapazität war nicht ausgelastet, die Konzentration sank und in Klassenarbeiten kam es zu Flüchtigkeitsfehlern. Als „Sonderling“ galt ich unter meinen Mitschüler:innen wohl trotzdem.

Blick nach vorne

Hochbegabte Underachiver wie ich, die jahrzehntelang unter ihren Möglichkeiten geblieben sind, können immer und jederzeit einen Neustart wagen. Einen Neustart, der endlich dem wahren Wesen entspricht; indem sie sich selbst ernst nehmen. Braucht es dazu eine externe Validierung wie einen IQ-Test? Meiner Ansicht nach – und auch für mich selbst – nicht. Mir reicht das Wissen aus meinen Schulzeugnissen und das Erkennen eigener Stärken, die allesamt auf eine unentdeckte Hochbegabung hinweisen.

Ein IQ-Test, ob nun bei Mensa oder anderswo sagt nur aus, dass jemand in der Lage ist, in einer solchen Testsituation Wissen abzurufen und sich der gesellschaftlichen Norm, die sich ausschließlich auf Zahlen, Daten, Fakten und „Bildung“ beruft, erfolgreich angepasst zu haben.

Die Aussage, dass jemand eine gute Bildung habe, besagt schließlich nur, dass ein Mensch eben gut ge-bildet wurde. Ge-bildet (oder ge-formt) nach den Vorstellungen von Schule, Gesellschaft und elterlicher Erziehung, um die Erwartungen einiger weniger in einer kapitalistischen Welt als Arbeitnehmer:innen zu erfüllen. In allen Schularten wird kaum bis gar nicht über zukunftsfähige Geldanlagen oder den Weg in die berufliche Selbständigkeit gesprochen. Es geht ausschließlich darum, „billige“ Arbeitskräfte zu „produzieren“, die gerne und willig dazu bereit sind, sich weiter ausbeuten lassen.

Natürlich verstehe ich aber auch die, für die ein positives Testergebnis erst eine Legitimation bedeutet, ungelebtes Potential zu leben. Aber es ist eben auch so, dass bereits ab einem IQ von 120 viele Merkmale von Hochbegabten auftreten können, die ein Leben in einer durchschnittlichen Welt schwierig machen. Umso wichtiger ist es, eigene Gedanken, Gefühle und Erfahrungswissen als valide zu bezeichnen. Denn insgeheim bin ich davon überzeugt, dass der Mensch als ein sich selbst bewusstes Wesen bereits weiß, ob er hochbegabt ist oder nicht. Aber vielleicht bin ich dazu einfach zu sehr Freigeist.

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