Seit dem Regierungswechsel in Deutschland erleben wir eine Debatte um sogenannte „Haushaltslöcher“, die es zu stopfen gilt, Eigenverantwortung in der Kranken- und Pflegeversorgung soll wieder mehr in den Vordergrund gerückt oder vermeintlich faule Bürgergeldempfänger:innen noch weiter drangsaliert werden. Von anderer Seite aus tönt der Ruf nach einer Vermögenssteuer. Weder das eine noch das andere ist jedoch richtig. Die Lösung liegt darin, die Revolution von unten her voranzutreiben.

Parteien sind Teil des Problems
Parteien sind zunächst einmal Interessenvertretungen für unterschiedliche Gruppierungen und Menschen. Klimaschützer:innen werden etwa vorrangig von Bündnis 90/Die Grünen vertreten, armutsbetroffene Menschen oder marginalisierte Gruppen von den Linken und die Bourgeoisie von CDU/CSU. Natürlich möchte jede dieser Parteien das bestmögliche Ergebnis für ihr Klientel herausholen. Dafür müssen dann die Interessen von anderen Gruppierungen zurückstehen.
Die Union möchte selbstverständlich die Besitzenden noch reicher machen, wofür die allgemeine Bevölkerung, allen voran die, die am wenigsten besitzen, darunter leiden müssen. Die Linken möchten den Vermögenden eine zusätzliche Bürde in Form von höheren Steuern auferlegen, damit die Menschen, die sie „vertreten“, besser gestellt werden. Grundsätzlich ist das natürlich eine gute Idee: Auch das Grundgesetz spricht davon, dass „Eigentum verpflichtet“ (Art. 14 Abs. 2 GG).
Doch diese Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen bedeutet immer die Ausübung von Dominanz. Es werden bestehende Dominanzverhältnisse festgeschrieben – oder neue etabliert. Aus diesen heraus entsteht Exploitation, die Ausbeutung des Prekariats in Form von Einschränkungen beim Sozialstaat oder bei Arbeitnehmer:innenrechten bzw. der Bourgeoisie in Form von Vermögenssteuern. Jede Partei übt immer Dominanz gegenüber denen aus, die sie nicht „vertreten“.
Wer vertretet hier eigentlich wen?
Eine Partei gibt sich hierbei ein Partei- bzw. Wahlprogramm. Diese entstehen unter Beteiligung der Mitglieder:innen oder Delegierten auf einem ordentlichen Parteitag. Die Mehrheit der Bevölkerung, die nicht Mitglied dieser Partei sind oder dort nicht mitbestimmen dürfen, weil sie nicht als Delegierte entsandt wurden, haben hieran kein Mitbestimmungsrecht. Es geht sogar so weit, dass Partei- und Wahlprogramme in Arbeitsgruppen vorbereitet und dann nur noch von den stimmberechtigten Mitgliedern eines Parteitags „abgenickt“ werden.
Die jeweilige Partei „vertritt“ nun starr dieses Programm in politischen Debatten, nicht jedoch die Menschen an sich. Diese können nur zwischen den Programmen der einzelnen Parteien wählen, haben aber keinen Einfluss mehr auf die Inhalte oder die Neuverhandlung von Positionen. Wahlen, das Recht auf Demonstration und Petitionen gaukeln ihnen dabei lediglich eine Scheinfreiheit vor.
Eine Form struktureller Gewalt
In Wirklichkeit jedoch halten Politiker:innen aller Parteien an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen fest. Sie sehen sich oft selbst als die „Elite“; die, die eben über andere entscheiden können und dies auch tun. Rassismus, Nationalismus, oder Klassismus sind weitere Formen struktureller Gewalt. Überall dort, wo Menschen sich über andere erheben, herrschen oder ausbeuten, geschieht Gewalt.
In der vergangenen Debatte über das Bürgergeld hieß es in den zahlreichen Talkshows, die dazu stattfanden, dass es eine Form der Gerechtigkeit sei, „Sozialschmarotzer“ härter zu bestrafen, wenn sie sich Angeboten verweigern. Dass das nur gerecht gegenüber der arbeitenden Bevölkerung sei. In Wirklichkeit jedoch ist es nicht nur Gewalt gegen die Schwächsten in unserer Gesellschaft, sondern auch Gewalt an allen abhängig Beschäftigten. Ohne ein sicheres „soziales Netz“ haben diese gegenüber den Kapitalist:innen weniger Verhandlungsmacht bei der Aushandlung von besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen.
So bauen konservative und rechte Politiker:innen ganz gezielt und bewusst eine Drei-Klassen-Gesellschaft auf: Von der herrschenden „Elite“, den Kapitalist:innen zur arbeitenden Bevölkerung bis hin zu den armen Menschen, als diejenigen, die von der „Hand in den Mund leben“ müssen und von „Almosen“ abhängig sind.
Linke wollen dies umkehren und streben nach einer Herrschaft des Prekariats, zum Beispiel indem sie Vermögende stärker besteuern. Doch auch dies ist letztendlich eine Form von struktureller Gewalt. Nur, dass diese Gewalt nicht von oben ausgeht, sondern von unten. Gewalt, die nicht zum Ziel hat, Eigentumsverhältnisse durch ein staatliches Gewaltmonopol, welches bei der Polizei liegt, abzusichern, sondern Verstaatlichung durchzusetzen.
Wie Gewalt definiert wird
Eine weitere Form der Ausübung von Gewalt gegenüber Schwächeren ist die des Speziesismus. Menschen werten die Interessen von Tieren und deren Empfindungsfähigkeit als geringwertig ab. Die Tierausbeutungsindustrie dominiert so über die, die sich nicht wehren können (siehe Video) – ein Muster, welches sich auch bei Rassist:innen zeigt, wenn sie Migrant:innen ihre Rechte absprechen oder wenn Sexisten Frauen* zu einem reinen Lustobjekt degradieren.
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Mehr InformationenDabei wird in der Debatte oft mit zweierlei Maß gemessen. Während die eine Gewalt gegen sich nicht wehrende Lebewesen als „normal“ gilt, ist Gewalt – zum Beispiel in Form der Verletzung von Privateigentum bei der Besetzung von Schlachthöfen – als illegal und gar extremistisch anzusehen:
[…] Im Zeitraum vom 2. bis 7. Mai 2019 richteten die Besetzer darüber hinaus federführend das antispeziesistische Camp „Liberate or die – from cage to freedom“ aus. In diesem Zeitraum kam es zu der Besetzung eines Schlachthofes in Düren […].
Verfassungsschutzbericht des Landes NRW, 2019, Seite 178
Und wie Gewalt definiert ist und welche zu legalisieren ist, wird wiederum von den Herrschenden willkürlich festgelegt. Damit schließt sich auch der Kreis zur rein programmorientierten Parteipolitik wieder: Je nachdem, welche Partei an der Macht ist, gelten jeweils andere Formen der Gewalt als legal. Die Bürger:innen haben hierauf keinen Einfluss als nur zwischen den Optionen zu wählen. Somit wird auch deutlich, dass das bestehende Parteiensystem niemals von innen heraus verändert werden kann. Das Parlament bekommt alle vier Jahre (oder manchmal sogar auch früher) nur einen anderen farbigen „Anstrich“.
Revolution von oben
Die Revolution, die gerade von den Regierenden ausgeht und sich gegen ihre „Untergebenen“ richtet, ist jedoch nicht neu. Bereits im Deutschen Reich galt von 1878 bis 1890 das Sozialistengesetz. Darin hieß es:
Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.
Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie („Sozialistengesetz“), Deutsches Reichsgesetzblatt 1878, Nr. 34, S. 351-358, § 1, abgerufen auf WikiSource am 12.10.2025
Da Anarchie gemeinhin als Vollform des Sozialismus bezeichnet wird und das Ziel bei beiden die bedürfnisorientierte Versorgung aller Menschen ist, sind von diesem Gesetz (vermutlich) auch alle anarchistischen Bewegungen mitbetroffen gewesen. Der damalige Reichskanzler, Otto von Bismarck, sah sich durch die zwei erfolglosen Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878 dazu genötigt, das Sozialistengesetz zu initiieren. Da sich bis heute kein Zusammenhang der von zwei Einzeltätern verübten Anschläge auf die Sozialdemokratie finden lässt, war das Ziel Bismarcks einzig, die Ausbreitung der Ideen von Marx, Engels und Zetkin zu verhindern. Es diente den Herrschenden einzig dem Machterhalt.
Heute erleben wir das in gleicher Form wieder: So wurde die Antifa mit einer Executive Order von US-Präsident Donald Trump am 22.09.2025 als inländische Terrororganisation eingestuft. Auch in den Niederlanden wurde ein nicht rechtsverbindlicher Antrag auf ein Verbot der Antifa mehrheitlich angenommen.
In Deutschland bringt die Alternative für Deutschland (AfD) nun einen ähnlichen Antrag mit dem Titel Inneren Frieden in Deutschland wiederherstellen – Antifa-Verbote umsetzen sowie Linksterror entschlossen bekämpfen ein.
Von anderer Seite her tönt es aber genauso laut nach einem Verbot der AfD.
Der von konservativen Kräften begonnene Kulturkampf ist somit eine Revolution, die ausschließlich dazu dient, sich die Macht zu sichern. Allen Akteur:innen geht es nicht darum, einen für alle annehmbaren Konsens zu finden, sondern ihre Ideologie in die Parlamente und die Köpfe der Menschen zu tragen.
Menschlichkeit statt Ideologien
Diese rechten wie auch linken Ideologien in die Gesellschaft hineinzutragen, ist Aufgabe der Parteifunktionär:innen. Wem das am besten gelingt, wird bei den nächsten Wahlen als Sieger:in hervorgehen. Notfalls wird eben auch mit gezielten Falschinformationen die Bevölkerung absichtlich getäuscht.
Wahlsieger:innen ziehen dann in den Bundes- und Landtag oder den Stadtrat ein. Dort werden aber selten die Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigt und für alle ein auskömmliches Leben geschaffen. Vielmehr geht es darum, die Parteiideologie in Gesetze zu gießen und als allgemeingültig zu erklären. Der zentralistisch organisierte Staat soll entsprechend der Ideologie der eigenen Partei umgestaltet werden. Andersdenkende Menschen müssen sich so entweder der Mehrheit fügen oder werden mit Ausgrenzung und Verfolgung bestraft.
Dies erlebten wir in der Geschichte bereits auf beiden Seiten: Die Nationalsozialisten verfolgten und töteten nicht nur Jüd:innen, Sinti und Roma oder andere Nicht-Deutsche, sondern auch Gewerkschafter:innen und Sozialist:innen. In der sozialistisch geprägten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hingegen wurden gezielt Regimekritiker:innen überwacht und inhaftiert.
Wenn wir uns insgesamt als Menschheit begreifen lernen, dann werden wir erst erkennen, dass jede:r von uns nach einem glücklichen Leben strebt.
Indem wir daran arbeiten, die Spaltung der Gesellschaft in Herren und Knechte zu beseitigen, arbeiten wir an beider Glück, am Glück der Menschheit.
Peter Kropotkin, Die Eroberung des Brotes (1892), Seite 82
Herren und Knechte sind dabei begrifflich weiter zu verstehen als es im ersten Moment wohl scheint. Bei den Herren handelt es sich nicht nur um Kapitalist:innen, die jene (Knechte) ausbeuten, die nichts weiter als ihre Arbeitskraft dem Markt anbieten können. Es sind vielmehr die Herrscher:innen, die nur ihren eigenen Machterhalt im Blick haben und die zugunsten ihrer eigenen Klientel den von ihnen nicht repräsentierten Teil der Bevölkerung unterdrücken.
Es gilt somit, die parlamentarische Demokratie von unten her zu zerschlagen. Menschen müssen in ihrem eigenen Bezirk, in dem sie leben, zusammenkommen und aktiv an der Konsensbildung mitwirken. Das kann jedoch nur mit einer anarchistischen und sozialen Revolution gelingen.
Die Revolution der Selbstermächtigung
Wie kann solch eine Revolution nun aber genau aussehen? Zuerst einmal gilt es, festzuhalten, dass sich alle Parteien und deren Funktionär:innen sowie Politiker:innen „im System“ befinden. Wenn wir wirklich nach echter und gelebter Menschlichkeit streben, müssen wir uns außerhalb des „Systems“ solidarisch zusammenschließen. Wir müssen – jede:r für sich – erkennen, dass dieses „System“ nur dazu dient, uns zu spalten und in bestimmte Schablonen zu pressen.
Nach dem Erkennen steht das Annähern. Wir müssen wieder lernen, dass es notwendig ist, sich gegenseitig respektvoll und auf Augenhöhe zu unterhalten und sich auszutauschen. Uns einander mit unserer Eigenart, unseren individuellen Wünschen, Bedürfnissen, Sorgen und Nöten zu akzeptieren. Zuhören. Gemeinsam nach Lösungen suchen, die dann in einen Konsens münden.
Das bedeutet jede Menge Arbeit. Doch hat niemals jemand behauptet, dass anarchistische Praxis ohne diese jemals funktionieren wird.
Lasst uns also Räume schaffen, in denen echte Begegnung möglich ist – von Mensch zu Mensch. Orte, in denen es keinen Konsumzwang gibt, in denen wir die alltäglichen Herausforderungen eigenmächtig angehen. Das kann in Betrieben oder Mietshäusern sein. Orte, an denen wir als Angestellte oder Mieter:innen gemeinschaftlich abseits von Kapitalinteressen entscheiden. Menschen brauchen keine Herren als Arbeitgeber:innen, die ihnen sagen, was zu erledigen ist – denn im Konsens können wir darüber selbst entscheiden. Wir brauchen kein:e Investor:innen, die in der Vermietung von Wohnung einzig ihren Profit sehen. Befreien wir uns endlich von diesen unsäglichen Dominanzverhältnissen!
Die Stadt gehört uns allen – lasst sie uns jetzt zurückerobern.
