Sascha Rakers

Achtsam leben. Kreativ erzählen. Verbunden wirken.

Schwarz-weiß-Porträt eines Mannes mit Brille und Hemd, der lächelnd in die Kamera blickt.

Wie ist es eigentlich agender zu sein?

Agender-Sein beschreibt die Tatsache, dass sich jemand nicht als Frau oder Mann fühlt, sondern als geschlechtslos. Oder einfach als Mensch. Wieder andere können mit dem Konzept von Geschlecht nichts anfangen oder lehnen dieses „Schubladendenken“ ab. Wie das genau zu verstehen ist, und was das mit mir zu tun hat, davon erzählt dieser Artikel.

Die Agender-Flagge in den Farben (von oben nach unten): schwarz, grau, weiß, hellgrün, weiß, grau, schwarz.
Foto: Jmia5211, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Womit alles begann

Wir schreiben das Jahr 2000. Das Internet befindet sich noch in den Kinderschuhen. Social Media, ChatGPT oder Home-Office – all das gab es zu dieser Zeit noch nicht. Stattdessen in den Briefkästen AOL-CDs und erste Schritte, schnelles Internet für alle zugänglich zu machen. Erste Foren wurden ins Leben gerufen. Und es gab jede Menge Usenet-Gruppen. Eine davon ist alt.messianic, in der eine Userin zum ersten Mal den Begriff agender verwendet:

Gott ist form- und geschlechtslos, also kann das „Abbild“ nicht körperlich, geschlechtlich oder sexuell sein.

Miriam Wolfe, in der Usenet-Gruppe alt.messianic, abgerufen am 26. Juni 2025, Quelle: https://groups.google.com/g/alt.messianic/c/Egv3-Fufvsw/m/FIGdiv-8z7AJ

Diese Aussage liegt nun inzwischen fast genau 25 Jahre zurück. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade einmal 13 Jahre alt. Einige Jahre später begann ich in den Foren von jesus.de mitzuschreiben und ohne diese Aussage jemals gelesen oder gekannt zu haben, kam ich in einem Beitrag zu dem selben Schluss – wenn auch etwas anders formuliert. Sinngemäß schrieb ich davon, dass ich glaube, dass Gott (oder das Göttliche) in allem ist und kein Wesen, das irgendwo im Himmel thront.

Agender im Buddhismus

Wie vieles ist auch Agender ein Label, welches ich mir selbst verpasse. Eine „Schublade“, in die ich mich selbst stecke. Letztendlich, aus der Zen-Perspektive betrachtet, ist auch dieses Konzept leer und unbeständig. Doch bietet es mir auch die Möglichkeit, auszudrücken, wie ich empfinde und was ich fühle.

Dies ist nicht mein, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst!

aus: Anattā-Lakkhana-Sutta (Lehrrede von den Merkmalen des Nicht-Ich)

Alles, was ich in dieser Welt bin, ob mein Körper nun weiblich oder männlich aussieht, wie ich denke, was ich fühle, ist vergänglich. Das ist nicht mein Ich, nicht mein Selbst. In der Wohlfühl-Spiritualität wird oft vom wahren Selbst gesprochen. Doch wo finde ich dieses „wahre“ Selbst? Das „wahre“ Selbst sind doch letztendlich meine Gefühle, Gedanken oder mein Bewusstsein. Es sind meine Werte, für die ich – mal mehr, mal weniger – einstehe. Aber auch dieses Selbst ist stetig im Wandel.

War ich gestern noch wütend, so bin ich heute vielleicht voller Freude. Und morgen lächelt mich vielleicht jemand an, und mein Groll auf die Welt, den ich gestern noch hegte, zieht weiter. So wie Regenwolken von einem Ort zum anderen wandern. Auch wenn mir so etwas wie Gerechtigkeit und Ehrlichkeit wichtig sind, ertappe ich mich möglicherweise dabei, wie ich zu anderen mal nicht gerecht bin.

Wenn ich mich selbst also als agender bezeichne, so bezieht sich das nur auf diesen irdischen Körper im jetzigen Augenblick.

Geschlecht ist ein Spektrum

Ich bin jemand, der sich von äußeren Reizen schnell überfordert fühlt. Aber ob ich nun in das Autismus- oder AD(H)S-Spektrum falle, vielleicht auch „nur“ hochsensibel bin, macht keinen Unterschied. Denn das, was ich im jetzigen Moment fühle, ist valide. Dazu braucht es keine von außen aufgedrückten Stempel. Die Überforderung verschwindet wieder so wie sie gekommen ist. Vielleicht bin ich dann im Wald, genieße die frische Luft und fühle mich dadurch frei und gehalten. Es ist alles ein Spektrum, auf dem wir uns hin- und herbewegen.

Auch meine in Teilen festgestellte Hochbegabung und mein Gefühl der Unterforderung in vielen Bereichen ist nur eine Momentaufnahme.

Als ehemaliger Pflegeprofi ist mir auch das Prinzip der Salutogenese nach Aaron Antonovsky sehr wohl bekannt. Dieses Konzept beschreibt die Annahme, dass sich der Mensch im Leben kontinuierlich in einem Spektrum zwischen Gesundheit und Krankheit bewegt (Gesundheits-Krankheits-Kontinuum).

Diese Beispiele verdeutlichen sehr gut, dass auch Geschlecht ein Spektrum ist. Jeder Mensch besitzt in sich weibliche wie auch männliche Anteile, die immer nacheinander auftreten, aber doch niemals gleichzeitig. Manchmal (und bei mir sogar überwiegend) ist gar kein Anteil vorherrschend. Dann betrachte ich mich einfach als Mensch. Auch Pronomen sind für mich irrelevant. Und manchmal hatte ich auch schon Phasen, da fühlte ich mich im „falschen“ Körper.

Vielleicht mag also momentan das Label agender für mich passend sein. Irgendwann anders ist es vielleicht das Label trans. Als Mann habe ich mich nie wirklich gefühlt, doch spüre ich sehr wohl den männlichen Anteil in mir. Dass, was unsere Gesellschaft eben mit dem Männlichen verbindet: Schöpferkraft und Mut.

Die Bedeutung der Flagge

Dass Gechlecht und agender ein Spektrum sind, spiegelt sich schon in den Farben der Flagge wider: Schwarz und weiß stellen die vollständige Abwesenheit, grau hingegen die partielle Abwesenheit von Geschlecht dar. Grün steht für die Nichtbinarität. Das Spektrum reicht hierbei von agenderfluid bzw. agenderflux, also einem kontinuierlichen Wechsel der Geschlechtsidentität über gendervoid, einem Spüren von „Leere“, wo eigentlich eine Geschlechtsempfindung sein sollte bis hin zu polyagender, einer Form von Mehrgeschlechtlichkeit.

Da nichts dauerhaft Bestand hat, ist eine fluide Geschlechtsidentität wohl am ehesten der „Normalzustand“. So unterschiedlich das Aussehen von uns Menschen ist, so verschieden ist auch das eigene Gefühl von Geschlecht. Diese Empfindung wandelt sich hierbei von Moment zu Moment – mal ist da vielleicht eine „Leere“, dann wiederrum ein erhabenes Gefühl von Männlichkeit.

Diese „Leere“ ist jedoch auch nicht wirklich leer. In dieser Leere steckt die Menschlichkeit; in dieser Leere fühlen wir uns mit allem verbunden. Dort spüren wir als Menschheit keine geschlechtliche Trennung. Vielleicht ist es genau diese Leere, die uns zu Menschen jenseits aller Konzepte macht.

Agender sein in einer binären Welt

Wie ist das nun aber im Alltag? Nicht immer einfach, so die kurze Antwort.

Die Anerkennung als FLINTA* in dieser Gesellschaft ist häufig einfach nicht gegeben. Das beginnt schon bei so kleinen Sachen wie der Wahl der richtigen Toilette. Seit ich mir bewusst darüber bin, dass für mich das Konzept von Geschlecht etwas Menschengemachtes ist und ich mich als agender einordne, fühlt es sich einfach falsch an, weiter das Männer-WC aufzusuchen. Auch Frauen-WCs sind für mich nicht passend. Manchmal gibt es zumindest genderneutrale Toiletten.

Der Begriff FLINTA* steht für Frauen, Lesben und Menschen, die sich als intergeschlechtlich, nicht-binär, trans oder agender wahrnehmen. Das Sternchen steht für Personen, die sich keinem der Begriffe zuordnen können oder wollen, aber aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität einer marginalisierten Gruppe angehören.

Bei den Toiletten hört es aber noch nicht auf. Ich habe es mir scheinbar angewohnt bei Briefen die Anrede einfach zu „überlesen“ und stattdessen direkt zum Inhalt zu springen. Weil die Anrede „Herr“ nicht passend ist. Aber „Frau“ sich auch nicht wirklich gut anfühlt. Und weil ich mich nicht jedem Absender neu erklären will und mich damit auch unfreiwillig outen muss.

Wir leben alle in einer Welt voller Gegensätze: männlich und weiblich, gut und böse, liebevoll und hasserfüllt. Im politischen Betrieb gibt es rechts und links. Doch würden wir dem anderen wirklich einmal zuhören, würden wir entdecken, dass uns so viel mehr verbindet als dass uns voneinander trennt. Wir stammen alle von derselben Spezies ab; unser nächster gemeinsamer Vorfahre ist der Schimpanse; wir streben alle nach dem großen Glück und wollen ohne Leid leben.

Natürlich verfalle auch in dieses Rechts-Links-Muster, wenn ich davon schreibe, dass die Alternative für Deutschland (AfD) Hass schürt oder Friedrich Merz mit der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD der Demokratie geschadet hat. Doch so wie diese beiden Protagonisten die Migrant:innen als Feindbild auserkoren haben, so ist der Gegner der linken Bubble das rechte und konservative Lager.

Die Gemeinsamkeit bei beiden ist aber doch, dass Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten und durch steigende Preise alle weniger Geld zur Verfügung haben. Nur die Ursache wird dafür jeweils woanders gesucht: Für die einen ist es alles, was fremd und ungewohnt ist. Für die anderen das kapitalistische System. Doch letztendlich beruht alles darauf, dass Menschen verzweifelt und frustriert sind und Ihnen rechte wie auch linke Populisten einfache Antworten versprechen. Doch weder die Zurückweisung von Migrant:innen an der deutschen Grenze noch die Einführung eines sozialistischen Staatsapparats werden diese Probleme lösen.

Mensch sein – Mensch bleiben

Vielleicht sollten wir alle aufeinander zugehen, in den Dialog treten, andere Meinungen nicht nur akzeptieren, sondern uns mit ihnen ernsthaft auseinandersetzen. Sich als agender zu labeln – oder Geschlecht als etwas Fließendes zu betrachten – leistet dazu möglicherweise einen wesentlichen Beitrag. Weil es den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Wenn die Bibel vom „Paradies“ spricht, ist es vielleicht genau das: Der Mensch, der einfach Mensch ist und in Harmonie mit allem um ihn herum lebt. Zu erkennen, dass die Einteilung in Nationalitäten, Geschlecht oder Vermögensstand letztendlich unbedeutend ist. Dass es nur eines gibt, das uns alle miteinander verbindet und eint: die Liebe. Auch das buddhistische Nirwana ist kein Zustand, der irgendwann nach dem irdischen Tod eintritt. Es ist das, was Buddha einst mit dem edlen achtfachen Pfad beschreibt, der aus dem Leiden (dukkha) herausführt. Das Leiden zu beenden, ins Nirwana zu treten, bedeutet ein „Paradies“ auf Erden zu schaffen.

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Platon, griech. Philosoph, 428-348 v.u.Z.

Möglicherweise ist es an der Zeit, Nicht-Wissen in unserer Gesellschaft zu kultivieren. Wir wissen nichts darüber, wie die Vergangenheit tatsächlich war. Geschichtsbücher sind nur eine Interpretation von Geschehnissen. Aber wir wissen auch nicht, was in zehn Jahren geschweige denn in einer Sekunde sein wird. Was wir wissen, ist die Tatsache, dass wir genau jetzt ein- oder ausatmen, einen einzelnen Buchstaben auf der Computertastatur antippen oder uns in dieser Sekunde als männlich, weiblich oder nicht-binär betrachten.

Wenn wir im Moment leben, den jetzigen Seins-Zustand achtsam und bewusst wahrnehmen, hören wir auf, Menschen in „Schubladen“ zu stecken. Dann gibt es nur noch das Ich, das im Du und das Du, welches im Ich aufgeht.